Dienstag morgen – eigentlich ein Tag wie jeder andere: gerädert aufstehen, nach unten schlurfen, Kaffeemaschine anmachen, Hund Bruno streicheln, Zeitung reinholen. und Brei kochen für die Kids. 7.30 Uhr sind alle aus dem Haus und ich kann meinen Gedanken nachhängen. Aber heute? Nicht.
Die bessere Hälfte hat einen Termin um 6.55 Uhr bei der Physio und bringt meine Abläufe durcheinander. Jemand macht die Kaffeemaschine und das Licht vor mir an. Jemand holt die Zeitung und wuselt rum, bevor ich überhaupt aus den Augen gucken kann. Jemand will wissen, wann wer heute was vorhat. Ich kann noch nicht mal meinen Mund öffnen. Wörter kommen einfach nicht raus und ich bin genervt.
Als alle weg sind, mache ich mir meinen zweiten Kaffee, weil der erste tatsächlich misslungen und die Hälfte schon wieder kalt ist. Kaffee ist zu teuer und die bessere Hälfte hat beschlossen, nicht mehr den guten Onlinekaffee zu kaufen, sondern bei Tchibo. Noch ist es nicht so weit, aber bald. Ich starre in meine Tasse und überlege, ob ich den kalten Kaffee noch trinken soll oder nicht. Ich kippe ihn weg. Was für eine Verschwendung. Aber ich will meinen perfekten Cappucino…heiß und mit Herz. Gesagt, getan…es klappt. Mit selbigem in der Hand scrolle ich durch Insta und stoße auf John Strelecky.
Nicht ganz zufällig, gebe ich zu, denn ich habe seinen Kanal abonniert. Er macht Werbung für seine Seminare zum Thema Big Five und ich werde hineingesogen. Ich klicke mich durch und fühle mich ertappt. Er traut sich doch glatt zu fragen, ob ich meine Big Five schon lebe, so wie seine super tolle Assistentin Anna, die die Programme leitet und alle Teilnehmer coacht. Anna hat es geschafft. „Sie lebt jeden Tag ihre Big Five.“ Glückwunsch Anna!
Ich merke, wie in mir der Neid aufsteigt. Noch schlimmer: er paart sich mit Frust. Mein Cappucino war mal schön und schmeckte mal gut. Was sind meine Big Five? Was würde passieren, wenn ich sie rausfinde und auf eine einsame Insel will, die nicht Lüneburg heißt und keine drei Schulen hat, die mein Leben bestimmen? Du willst mir doch nicht ernsthaft sagen, dass es Orte gibt, an denen man happily ever after lebt???
Ich drifte ab…wo würde ich leben? Ich kann mich nicht mal entscheiden…Palme, Weite, Berge, Grand Canyon…eines meiner Grundprobleme ist präsenter denn je. Entscheide dich doch mal! Nicht, dass ich das gerade gestern sehr deutlich zu meiner Tochter gesagt habe, die sich nicht entscheiden konnte, in welchem Bett sie schlafen will. Ich: „Entscheide dich einfach und steh dazu! Es gibt kein richtig oder falsch. Du musst nur eine Entscheidung treffen und von da aus weitergehen.“ Tja, kluge Sprüche kann ich gut und stelle fest, dass ich wohl mehr mit mir als mit ihr geredet habe. Ich bin Profi im Unentschlossen sein. Ich kann mich nie wirklich entscheiden oder sag ja, um danach wieder nein zu sagen. Kennst du das?
Wie also Mr. Neunmalklug Strelecky soll ich mich entscheiden, welche Big Fives meine sind, wenn ich sie doch immer ändern würde? Ich müsste 1900 Taler bezahlen, um mit der Perfekt-Anna herauszufinden, was es ist und wie ich dahin komme. Es fühlt sich falsch an. Da hat doch irgendjemand sein Gehirn angeschmissen, ein Buch zum Bestseller gemacht, den Nerv der Zeit getroffen, noch ein Buch geschrieben und noch eins und sich richtig gut vermarktet. Er macht Millionen und will auch noch mein Geld. Natürlich will er nur mein Bestes, aber ich frage mal ganz provokant: sind wir alle so gleich, dass sich unser Leben auf fünf Dinge beschränken lässt, die uns glücklich machen?
Darum geht es doch. Das Thema ist immer das gleiche. Oder dasselbe…ich werde diese Wörter ein Leben lang verwechseln. Es ist ein pures Luxusthema: bist du unzufrieden, gelangweilt, gestresst oder ähnliches? Dann nimm dir einen Coach und dein Leben wird sich um 180 Grad wenden. Zur Not musst du alles aufgeben und deine Beziehung geht den Bach runter, aber am Ende sitzt du glücklich unter einer Palme auf einer einsamen Insel, trinkst Cocktail und schaust in den Sonnenuntergang.
Leider hat dein Coach aber noch ungefähr eine Million anderer Leute gecoacht und auch diese kommen auf deine einsame Insel. Es wird laut. Es wird eng und an der Cocktailbar steht eine Schlange, so dass du, ganz wie zuhause, mindestens 30 min anstehen darfst. Leider aber kommst du von der Insel nicht mehr runter, denn die Kohle ist alle. Mister Neunmalklug hat sich vom Geld seiner Teilnehmer einen Privatjet gekauft und du siehst nur noch den Schweif am Himmel bevor die Sonne untergeht. Und jetzt?
Jetzt bist du froh, dass das nur reine Fantasie war und du auf keine Insta-Werbung reingefallen bist. Probleme wird es immer geben und man nimmt sie tatsächlich überall mit hin. Wenn ich eins gelernt habe, dann dass es völlig egal ist, wo du dich auf diesem Planeten befindest, deine Gedanken sind dabei und solange du sie nicht sortiert hast, brauchst du dich nicht auf den Weg machen. Mister Strelecky hat es geschafft, er ist tatsächlich einfach nur seinem Herzen gefolgt und hat ein Buch geschrieben, das die Herzen der anderen öffnet. Und mich irgendwie triggert, denn jetzt fällt mir doch ein, dass er in irgendeinem Artikel hier schonmal eine Rolle gespielt hat.
Es ist der pure Neid. Ich möchte ein Buch schreiben, das so einschlägt wie seins und so glücklich und berühmt werden. Ausgesorgt. Fertig. Kein bloggen mit SEO mehr nötig, damit ich in Pinterest gefunden werde. Kein Anpassen, kein Müssen, einfach nur sein. Wäre das nicht ein Traum?
8.43 Uhr – die bessere Hälfte habe ich mit meiner schlechten Laune vergrault. Er tut mir leid. Ich kann ziemlich unausstehlich werden, wenn ich in meinen Gedanken unterbrochen werde, aber er ist natürlich schneller von der Physio zurück als ich dachte, hat seinen Kaffee gemacht, den Hund bespaßt und mit mir Smalltalk machen wollen. Alles harmlos und in bester Absicht. Und ich? Nöle ihn voll, dass ich versuche, mich zu konzentrieren, nie meine Ruhe habe und verziehe mich vom Wohnzimmer mit Ausblick in mein dunkles Nordzimmer mit Tür zu.
Stöhn. Dienstag morgens ist es einfach auch nicht besser als montags. Mich beschleicht das leise Gefühl, dass es Mittwoch ähnlich wird. Vielleicht hat Mr. Neunmalklug Recht und ich muss meine Big Five herausfinden, damit die gute Laune wieder kommt. Aber an ihn kommt man ja gar nicht mehr ran. Nur Perfekt-Coach Anna ist Tag und Nacht für dich da. Ich glaube nicht, dass sie keinen Stress hat, denn im Endeffekt hat sie sich einen Rahmen geschaffen, der ihr Vorgaben macht und sie fesselt. Die Programme sind bis nächsten Sommer ausgebucht. Jetzt haben wir gerade mal den 2. September. Ich weiß nicht. Es ist so viel Schein, so viel mehr als Sein.
Was ist wirklich und was nicht? Was kann ich glauben und worauf vertrauen? Ich schaue aus dem Fenster und fange an zu träumen. Sicher ist die Liebe meiner besseren Hälfte und die meines Hundes. Die ist manchmal tatsächlich etwas zu viel. Aber so sind Hunde halt. Jedesmal wenn ich wiederkomme, freut er sich als wäre ich Jahre weg gewesen. Übertrieben, aber schön.
Vielleicht ist doch alles schon in Ordnung. Vielleicht brauchst auch du nicht weiter suchen. Hör auf, durch Insta zu scrollen und dir von anderen Probleme machen zu lassen, wo keine sind. Ich bin sicher, dass dir deine Wünsche und Sehnsüchte glasklar erscheinen, wenn du mal für eine Stunde ohne Handy in den Wald gehst. Mr. Neunmalklug hat ja zu allererst auch eine Auszeit genommen und allem entsagt, um seine innere Stimme zu hören und ihr zu folgen. Und schau, was daraus geworden ist! Ein ganzes Imperium. Es ist verrückt, was wir Menschen mit unseren Gedanken schaffen können.
Wenn wir alle Zweifel beiseite schieben, kann es richtig groß werden. Das Gute wie das Schlechte, aber das würde jetzt den Rahmen sprengen oder ich muss doch mal anfangen, ein Buch zu schreiben. Denn welche Gedanken halten mich davon ab? Dass ich nicht weiß, wie man das macht und davn ausgehe, dass es keiner lesen will? Wenigstens müsste ich es nicht SEO konform machen und auf Pinterest um Reichweite betteln. Ist bloggen der falsche Weg? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass ich Leute erreichen will und Mut machen. Ich bin sicher, dass ich nicht alleine mit diesen Gedanken bin und dass du vielleicht ähnlich hinterfragst, warum dein Leben in diese Richtung abgebogen ist. Wie du deine Freiheit definierst und was für dich wirklich sinnvoll ist. Denn der Sinn ist das, was uns erfüllt. Arbeit und Leben, das Sinn macht und einen Fußabdruck hinterlässt. Ein befriedigendes JA zum Leben und das Wissen, dass du nicht umsonst auf dieser Welt warst. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns seine Lebensaufgabe hat und ich wünsche mir von Herzen, dass du deine findest und mit Vollgas lebst. Mein Kaffee ist endgültig kalt. Aber das macht nichts. Die Gedanken sind zu Papier gebracht und ich fühle mich gut. Vielleicht wird der Dienstag noch ein schöner Tag und der Mittwoch noch viel besser.
In diesem Sinne, alles Liebe und bis zum nächsten gemeinsamen Gedanken nachhängen,
Deine Ute